Niklas Luhmann: Der neue Chef

#gelesen

Niklas Luhmann: Der neue Chef - 2016, 120 Seiten

 

Vor der Systemtheorie war die Beobachtung: Die drei Texte im Band "Der neue Chef" aus den 70er Jahren belegen auf erfrischende Weise den intellektuellen Werdegang Niklas Luhmanns. Er beobachtet Situationen rund um Chefwechsel und beschreibt firmen- und bürokratieinterne Zusammenhänge weniger durch einen theoretischen Blick denn durch narrative Offenlegung.

 

Luhmann selbst war vor seiner akademischen Karriere Verwaltungsbeamter gewesen. Da mag es ab und an also neue Chefs gegeben haben. Mal kommen sie von außen, mal steigen sie in der Firma auf und ziehen ihre Clique mit. Es gibt viele Parameter und Gefahren mit der Untergebenenkommunikation, wenn der Neue keine Ahnung vom Aufgabenfeld hat (oft: Ministerwechsel) oder wenn er, aufs Unpersönliche reduziert, nur die allernotwendigsten Fakten durchgestellt bekommt.

 

Verwaltungsmenschen sind Taktiker. Es gibt Regeln, Zusammenhänge und Metaebenen. Zwischen Chefs, Kollegen und Untergebenen kämpft Ordnung, Ziel und Erfolg durch Kommunikation. Dass der Chef tatsächlich der Stärkste ist, wagt Luhmann wider den Wissenschaftskanon anzuzweifeln: "Ich finde es ungerecht, dass man Vorgesetzte, die durch ihre Stellung ohnehin schon priviligiert sind, auch noch von der Forschung her stützt, mit Kursen über Menschenführung beglückt und mit entsprechenden Techniken ausrüstet, die von der Struktur her dispriviligierten Untergebenen dagegen ohne Hilfe läßt". Unter dem Schlagwort "Unterwachung" stellt Luhmann die Machtfrage auf den Kopf, indem er den Wissensmangel der Chefs - Knappheit von Zeit und Bewußtsein - mit der Macht der Untergebenen aufwiegt. Sie sind es, die die Komplexitäten der Entscheidungslagen für den Vorgesetzten bearbeiten und ihm die Ergebnisse in den Mund legen. Er braucht dauernd Hilfe und hat in seiner Funktion als Repräsentant oft nicht viel Ahnung vom täglichen Geschäft.

 

Die Texte aus der Pubertät der Systemtherorie könnten auch von Journalisten stammen, die mit analytischem Blick Chefs studieren und deren Gepflogenheiten im Bürosystem narrativ an Verallgemeinerungmöglichkeiten koppeln. Nichts anders tut die Systemtheorie. Man kann sie heute individuell wie kollektiv im Open Source der Wahrnehmungaufzeichnung praktizieren und an Begriffsmodulen, die sich bewährt haben, verifizieren.

 

Luhmanns Mammutwerk ist in hohem Maße narrativ. Hinter all den komplexen Beschreibungen der gesellschaftlichen Begrifflichkeiten steht das nacke Leben. Die Systemtheorie mag kompliziert erscheinen, Luhmanns Sprache ist aber vor allem präzise und von juristischer Klarheit, sprich Schönheit. Wer sich auf die Systemtheorie einläßt, erlernt die Wahrnehmung des Alltags mit analytischer Stringenz: Luhmann machte das Soziale zum Lustobjekt einer weltoffenen Erkenntnis, die durch kontemplatives Hinschauen entsteht.

 

Er hat sich nie als Chef der Systemtheorie gesehen wie der Führer einer Ideologie, sondern wie ein Guru, der Begabung weiterreicht, um anderen Weisheit und Erlösung darin zu ermöglichen, all die komplizierten Gesellschaftsverstrickungen zu durchblicken und sie klaren Kopfes weiter zum Besseren zu gestalten. - Ob es dabei der Chefs bedarf, ist nur eine Nebenfrage. Zumal, wie Herausgeber Jürgen Kaube, das Büchlein zusammenfassend, sagt: Chefs sind einerseits unentbehrlich, andererseits stören sie.